Die Auswanderung im 19. Jahrhundert
Für 200 Ebersdorfer und Frohnlacher war Amerika das „gelobte Land" von Hans Remde
Wer sich mit dem Leben seiner Vorfahren befasst, wird
früher oder später dem Phänomen der Auswanderung begegnen. So erging es auch
mir, als ich über das alte Geschlecht der Klugs einen Beitrag für unsere
„Dorfgeschichten" schrieb (sh. Ausgabe Nr. 6,
Seiten 64-73). Beim Studium der Klug'schen Ahnentafel stieß ich zwischen den
Jahren 1835 und 1870 immer öfter auf die lapidare Bemerkung: „Ausgewandert nach
Amerika". Manchmal galt das für ganze Familien. So wanderte beispielsweise
1847 der 48jährige Weißbüttner Johann Nikolaus Klug mit seiner Frau Margarete
und seinem 11-jährigen Sohn, der ebenfalls Johann Nikolaus hieß, nach Amerika
aus. Drei Jahre später, am 24.10.1850, folgte ihnen seine Tochter Anna Gertrud,
damals 28 Jahre alt, mit ihren zwei unehelichen Kindern und deren Vater, dem
Hafner Johann Stephan Thomä aus Frohnlach. Wie wir
aus der Chronik wissen, befanden sich die Eltern von Anna Gertrud 1870 in
Philadelphia. Ob sie 20 Jahre vorher schon in dieser größten Stadt
Pennsylvanias lebten, wird nicht mitgeteilt. Diese Ortsangabe ist der einzige
Hinweis über das Schicksal der genannten Auswanderer in ihrer neuen Heimat.
Niemand weiß, wie es ihnen dort ergangen, was aus ihnen geworden ist. Haben sie
in Amerika ihr Glück gemacht? Oder sind sie das geblieben, was sie in der alten
Heimat waren: arme Leute, die sich im Kampf um das tägliche Brot verzehrten?
Solche Überlegungen führen geradezu zwangsläufig zur Frage:
Warum eigentlich verließen im 19. Jahrhundert so viele Menschen ihr deutsches
Vaterland und nahmen die beschwerliche Schiffsreise über den Altantik auf sich,
um in den Vereinigten Staaten von Nordamerika ein neues Leben zu beginnen?
Gründe für die Auswanderung
Eine segensreiche Errungenschaft der Medizin verursachte in
der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, so paradox das klingen mag, große
wirtschaftliche Not. Zu dieser Zeit entdeckte der österreichische Arzt Ignaz
Philipp Semmelweis die Ursachen des Kindbettfiebers
und ging als „Retter der Mütter' in die Geschichte der Medizin ein. Dies hatte
überall einen Kindersegen großen Ausmaßes zur Folge: Zehn und mehr Kinder pro
Familie
waren nun nicht mehr die Ausnahme,
sondern die Regel. Es kam zu einer Bevölkerungsexplosion und zwangsläufig zur
Beschäftigungslosigkeit und Armut der Massen, dem so genannten „Pauperismus", der in der Brockhaus-Jubiläumsausgabe
von 1908 wie folgt erläutert wird: „Pauperismus ist
die chronische Massenarmut, ein in einem ganzen Lande oder größeren Landesteil
herrschender Notstand, bei dem ein Teil der Arbeiterbevölkerung wegen
unzulänglicher Beschäftigung auf Unterstützungen angewiesen ist und die
Beschäftigten in ihrem Lohn nur den notwendigsten Lebensunterhalt
erhalten."
Auch im Herzogtum Coburg war die Not in der Bevölkerung
teilweise katastrophal. Das traf selbst auf die Büttnerdörfer Ebersdorf und Frohnlach zu: Hafner, Schneider, Leineweber und andere
Handwerker verdienten wenig, Tagelöhner und Dienstboten, falls sie überhaupt
Arbeit hatten, noch viel weniger, und bei den 44 Büttnern, die es zur Zeit der
Gebiets- und Forstreform im Jahre 1813 hier gab, hatten zwar die so genannten
„Fünfundzwanziger" (Nr. 1-25 der werkholzberechtigten Meister) noch ihr
gutes Auskommen, aber schon die weniger Privilegierten (Nr. 26-44 der Meister)
sowie die Meister ohne Forstrecht und ihre Gesellen gerieten jetzt, wohl auch
wegen Überbesetzung dieses Handwerks, in große wirtschaftliche Schwierigkeiten.
So nimmt es nicht wunder, dass sich unter den Auswanderern auch zahlreiche
Büttner und deren Söhne befinden. Weitere Auswanderungsgründe waren: Keine
Heiratserlaubnis für Verlobte, besonders wegen fehlender Wohnungen; Verlust des
Ansehens bei Personen, die ihr Hab und Gut vertan hatten oder mit dem Gesetz in
Konflikt geraten waren; günstige Gelegenheit für junge Burschen, sich dem
Militärdienst zu entziehen; Möglichkeit für Gemeinden, unliebsame Personen
abzuschieben. Natürlich trieb auch Abenteuerlust nicht wenige Männer und Frauen
in die Ferne. Schließlich war auch der Absolutismus der regierenden Fürsten für manchen
freiheitsliebenden Bürger ein
Grund, seiner Heimat den Rücken zu kehren. Walter Schneier
charakterisiert Herzog Ernst I. von Sachsen-Coburg-Gotha (1808-44) in seinem
Buch „Coburg im Spiegel der Geschichte" u. a. so: „Schon der Gedanke an eine Mitbestimmung des Volkes in politischen
Fragen bedeutete für ihn die Wurzel der Anarchie." Dieser Herzog
erdreistete sich sogar, Münzen mit geringem Gehalt an Silber prägen zu lassen.
Die Folge: Das Coburger Geld kam in Verruf, die Coburger Bevölkerung musste
Verluste hinnehmen. Dem erzkonservativen Herrscher folgte, zum Glück für das
Coburger Land, sein ältester Sohn, Herzog Ernst II. (1844-93), der sich im
Gegensatz zu seinem Vater als ein fortschrittlicher, liberaler Landesfürst erwies.
Sein Bruder war übrigens der Prinzgemahl Albert der legendären Queen Victoria.
Fast alle Auswanderer hatten in jenen schlimmen Jahren nur
ein Ziel und eine Hoffnung: die Vereinigten Staaten von Nordamerika mit ihrer
freiheitlichen Verfassung und ihren unbegrenzten Möglichkeiten. Amerika - so
und nicht anders hieß ihr „gelobtes Land“!
Wer durfte und wie konnte man
auswandern?
Wer auswandern wollte, musste ein Gesuch an das
Herzoglich-Sächsische Landratsamt in Coburg richten. Ein solches reichte Anfang
1862 der 61jährige Büttnermeister Johann Klug ein. Darin hießt es u. a.: „Meine 25jährige Tochter Barbara Klug
wünscht nach Amerika auszuwandern im Mai dieses Jahres.“ Der damalige
Schultheiß Paul Stüpfert bescheinigt, dass dieser
Auswanderung seitens der Gemeinde nichts entgegensteht. Daraufhin wird im
„Regierungs- und Intelligenzblatt für das Herzogtum Coburg“ vom 8. Mai 1862
folgendes bekannt gegeben: „Die ledige
Barbara Klug aus Ebersdorf b. Sonnefeld erhält am 10. d. M. Reisepass zur
Auswanderung nach Amerika. Für etwaige Schulden derselben steht deren Vater,
Johann Klug, daselbst ein. Coburg, den 2. Mai 1862 — Herzogl.
Landratsamt — v. Wangenheim.“
Gleichzeitig mit Barbara Klug erhält auch der Korbmacher
Johann Georg Martin am 10. Mai 1862 seinen Reisepass nach Amerika. Für ihn hat
sich Lorenz Wöhner verbürgt. Es ist anzunehmen, dass
Barbara Klug und Johann Gg. Martin miteinander verlobt waren, hier aber nicht
heiraten konnten oder durften und ihre ganze Hoffnung — bei Joh.
Gg. Martin war es die Hoffnung auf Selbständigkeit — auf die Neue Welt setzten.
Um die Auswanderung selbst kümmerten sich dann einheimische Agenten, die bei
Handelshäusern aus Hamburg oder Bremen auf Provisionsbasis angestellt waren.
Das Herzogliche Staatsministerium achtete mit gebührender Strenge darauf, dass
dabei alles in geordneten Bahnen verlief. So musste beispielsweise die Firma Isenthal, Cohen & Co., Hamburg & Liverpool,
nachweisen, dass sie „nach Entrichtung
der gesetzmäßigen Kaution von 10.000 Gulden berechtigt ist, Auswanderungen nach
fremden Weltteilen von Hamburg aus und anderswo zu befördern." Hierzulande
war die Übernahme einer Vertretung für eine solche Firma sehr begehrt, weil man
dabei anscheinend gut verdienen konnte. Kein Wunder, dass der Färbermeister
Laurenz Adam Frommann aus Coburg, dem die
herzoglichen Beamten wegen Unregelmäßigkeiten im Geschäftsgebaren die Agentur
entzogen hatten, daraufhin seitenlange Briefe an die Behörde schrieb mit der „inständigen Bitte", ihm die
Genehmigung zur Ausübung der Agenturgeschäfte doch wieder zu erteilen. Aber die
Beamten blieben bei ihrer ablehnenden Haltung. Dagegen wurde einem Herrn Adolph
Pertsch in Coburg erlaubt, als Hauptagent die Herren Pokrantz & Co. in Bremen zu vertreten, während
Webermeister Friedrich Dehler in Neustadt b. Coburg als Agent des Bremer
Handlungshauses Stißer & Comp.
wirken durfte. In den Anzeigen dieser Agenten heißt es u. a.: „Biete meine Vermittlung zur Sicherung
sorgfältigster Beförderung auf Dampf- und Segelschiffen zu niedrigsten Preisen
an." Davon machten allein aus Ebersdorf und Frohnlach
zwischen 1837 und 1865 etwa 200 Personen Gebrauch. Der erste Auswanderer nach
Amerika war im August 1837 der 27jährige
Büttnersohn Johannes Stegner, der aus einem forstberechtigten Haus in
Ebersdorf stammte.
Was kostete die Auswanderung
und wie wurde sie finanziert?
Im Jahre 1849 kostete die Überfahrt von Hamburg nach New
York im Zwischendeck eines dreimastigen Segelschiffes
— also die wohl billigste Art übers Meer zu reisen — inklusive Verköstigung und
Kopfgeld pro Person 38 Cursächsische Taler. Nehmen
wir mal an, dass der am 17. März 1849 ausgewanderte Weißbüttner Johann Paulus Stegner aus Frohnlach die Reise
nach Amerika auf einem solchen Schiff angetreten hätte, so wären ihm allein
dafür 380 Taler abverlangt worden. Denn Paul Stegner
wanderte mit 9 Personen aus: seiner Frau, einer Tochter des Hafners Stephan Vollrath, und 7 Kindern im Alter von 1 bis 16 Jahren; er
nahm noch den 7-jährigen Schüler Lorenz Gotthold Oberender
aus Eberdorf mit, dessen Mutter auch eine Vollrath
gewesen ist. Die Tante hatte den offenbar elternlosen Jungen zu sich genommen.
Natürlich sind Paul Stegner noch
viel höhere Kosten entstanden. Da war ja zunächst die Anreise per Postkutsche —
nach Inbetriebnahme der Werrabahn im Jahre 1858 dann auch per Bahn — nach
Bremerhaven oder Hamburg zu bezahlen. Selbst wenn man sich Schusters Rappen
anvertraute, was oft genug geschah, fielen ja Übernachtungskosten an. Es sei
denn, man kroch in einen Heuschober oder fand verlassene Scheunen oder Ställe,
wo man die Nacht kostenlos verbringen konnte. Im Auswanderungshafen angekommen,
konnte es passieren, dass man auf sein Schiff tage-, ja manchmal sogar
wochenlang warten musste. Dabei entstanden wiederum zusätzliche Ausgaben. So wurden oft genug die wenigen Gulden, über die man noch
verfügte, vorzeitig dezimiert oder gar restlos ausgegeben. Schlimm war's in
jedem Fall, wenn man bei der Ankunft in New York amerikanischen Boden ohne
englische Sprachkenntnisse und noch dazu mittellos betrat. Geld in ausreichendem
Maße war also eine wesentliche Voraussetzung für die Auswanderung überhaupt.
Paul Stegner blieb also nichts
anderes übrig, als sein Anwesen in Frohnlach zu
verkaufen. Beim Frohnlacher Schultheißen wurde am 1.
März 1849 folgender Kaufvertrag aufgesetzt (Originaltext): „...es verkauft der Weißbüttnermeister Paul Stegner
in Frohnlach sein in Besitz habendes Wohnhaus Nr. 24
nebst daran stoßenden Gras- und Gemüsgarten und mit
den darauf haften Lasten mit Nutzen und Beschwerden. An den Mauer Gesellen
Johann Nicol Rüger zu Frohnlach um und für 500 Gulden reinh.
sage mit Worten fünfhundert Gulden reinh. Verkäufer
hat bis heute die rückständigen Gaben zu berichtigen. Der Käufer Nicolaus Rüger hat sogleich 200 Gulden reinh.
abschläglich bezahlt welches hierdurch bescheinigt
wird. Da nun der Verkäufer Paul Stegner in den
nächsten Tagen nach Amerika auswandert und die Zeit zu kurz ist die letzten
drei hundert zu beschaffen so verspricht der Käufer in kurzer Zeit und
längstens bis den 31. December 1849 zu Erfüllung der Kaufsumma die 300 Gulden an Paul Stegner
seinen Bevollmächtigten den Hafner Meister Johann Lorenz Vollrath
zu Frohnlach zu bezahlen..." Da der
Hausverkauf Paul Stegner zunächst nur 200 Gulden —
etwa !3/4 rheinische Gulden entsprachen dem Wert eines cursächsischen
Talers — bar auf die Hand brachte, muss er also noch mehr als das Doppelte aus
seinen Ersparnissen mit auf den weiten, Ungewissen Weg nach Amerika genommen
haben.
Dieses Beispiel ist bezeichnend für die Haltung derjenigen,
die sich zur Auswanderung entschlossen hatten: Sie brachen ihre Brücken hinter
sich ab und setzten dann mit allem Hab und Gut auf den Neuanfang in der Neuen
Welt.
Hat sich die Auswanderung
gelohnt?
Das ist eine Frage, die ich leider nicht hinreichend
beantworten kann. Es gibt weder in Ebersdorf noch in Frohnlach
Hinweise darauf, dass Auswanderer aus unseren Dörfern nicht nur glücklich und
zufrieden geworden wären, sondern auch ein besseres Leben, ohne wirtschaftliche
Not, geführt hätten. Man hat auch nie etwas von einer spektakulären
Dollarerbschaft gehört. Wahrscheinlich haben unsere Auswanderer ihre Heimat
schnell vergessen. Denn Besuche hierzulande gab es höchst selten. Ich selber
weiß nur von einem: Im Juli 1949 besuchte der damals schon 86jährige Wilhelm
Lindner, der Bruder des „Zimmer-Nickel" (also des Großvaters von Rolf
Martin), seine Verwandten im Coburger Land und natürlich auch die „Ünter-Becks" in Ebersdorf. Der gelernte Brauer war als
junger Mann in die Staaten ausgewandert und hatte es als Chef-Braumeister der Al-Brewery Company in Phoenix, Arizona, zu einigem
Wohlstand gebracht. Aus welchem Holz er geschnitzt war, bewies er in der
Prohibition (Verbot der Alkoholherstellung und -abgäbe von 1919-33 in den USA),
wo er zum Gemüsehändler umsattelte und auch dabei erfolgreich war. Obwohl seit
mehr als einem halben Jahrhundert im
angloamerikanischen Sprachraum ansässig, hatte er seine Muttersprache nicht
vergessen. Selbst Dialektausdrücke waren ihm noch geläufig. Als ihm nämlich bei
einem Gang durch Ebersdorf der Wöhners-Karl mit
seinem Fuhrwerk begegnete, wußte er ganz genau, was
dieser auf seine Felder fuhr: „Misthülln!" rief
der Amerikaner aus Arizona in unverfälschter Ebersdorfer
Mundart und lachte aus vollem Herzen.
Quellen: Staatsarchiv Coburg; Karl Schmidt: „700
Jahre Ebersdorf-Coburg" sowie „Schülerlisten
Ebersdorf mit Frohnlach"
Mit freundlicher Freigabe der Arbeitsgruppe
‚Spurensuche’ – Auszug aus den ‚Dorfgeschichten’ – Band 8 von 1994